Peter Handke und sein Zugang zur Bibel
Wir gratulieren mit dem folgenden Zitat aus seinem Werk "Langsam im Schatten":
„Seiner Form, seines Rhythmus, seines Tonfalls nach: ein Buch aus der Nacht der Zeiten.
Das trifft zu, und zugleich kann der Leser unserer Tage, der von heute, in der Bibel, Buch für Buch, seine eigene Geschichte lesen, wie in keinem anderen Buch: er kann sie da entdecken, dann sie verstehen, dann sich ihr stellen.
Der Leser ist der tragikomische Held aller der biblischen Geschichten; nicht bloß der Geschichten, sondern auch der Liebesgedichte, wie im Hohenlied, und der Hilferufe, wie immer wieder in den Psalmen. Du, Leser, hast den ersten Farbenaugenblick gelebt in Eden, und du wirst jene schwarzen und schwärzeren letzten Momente erleben, dein Mund voll Essig (und Ärgerem), wo du aufschreien wirst mit der Frage, warum dein sozusagen allmächtiger Vater dich verlassen hat.
Deswegen ist die Bibel für den Leser ein entsetzliches, gefährliches Buch:
er ist gezwungen, zu sehen, wie es, in der Tiefe, mit ihm steht, dem Sterblichen.
Verlorener Sohn, der sich in Sicherheit fühlt, weil ihm der Vater für einmal verziehen hat – ihm sogar ein Fest bereitet hat. Aber danach, auf dem Kreuz, wo ist er, mein Vater und sein versprochenes Fest?
Die Bibel kann in ihrem Leser das äußerste Grauen erwecken: ah, dieser Verrückte, der sich für Gott hält, unsterblich; dieser Wehleidige, welcher in den Bedrängnissen sich vor seinen Widersachern brüstet mit der Allmacht seines Vaters, und daß der ihm gleich zu Hilfe kommen wird; dieser sogenannte Gottessohn, der krepiert unter Geheul wie ein herrenloser Hund –
das alles, das bin ich selber, ich, der das liest.
Du, der heutigen Tages die Bibel liest:
Achtung, Todesgefahr! Oder Lebensgefahr? Beseelende Gefahr?
Begeisternde Gefahr, seit jener Nacht der Zeiten? Heilsame Gefahr? Heilsgefahr?“
Handke, Peter 1995: Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980–1992 (Suhrkamp Taschenbuch 2475), S. 123–124.